vom 02.05.2017 - Autor: Marco Neumann
Wenn Christen über Ethik diskutieren, ist das oft ein interessantes Schauspiel: Jede Seite hält eine bestimmte und unterschiedliche persönliche Auswahl an biblischen Geboten für "ganz klar" und zweifelsfrei von Gott gewollt. Und diese Gebote seien zu befolgen - hauptsächlich deshalb, weil sie schließlich "in der Bibel stehen". Viele andere Gebote, die dort auch stehen, aber von der jeweiligen Partei nicht erwünscht sind, werden auf die eine oder andere Weise ausgeblendet.
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Selten wird diese Ebene verlassen und auf einer grundlegenderen Ebene diskutiert, beispielsweise: Warum hast Du Dir gerade diese Gebote ausgesucht? oder: Warum glaubst Du, dass es sich gerade dabei um Gottes Willen handelt? oder: Bist Du Dir bewusst, dass Du viele Gebote nicht für Gottes Willen hältst, auch wenn sie "ganz klar" in der Bibel stehen?
Auf dieser Ebene zu diskutieren wäre jedoch wesentlich Erfolg versprechender. Denn es wird sehr schnell deutlich, wie relativ jede sogenannte "christliche Ethik" ist und dass man nicht umhin kommt, sich selbst und anderen darüber Rechenschaft abzulegen, nach welchen Kriterien man seinen Lieblingsgebotekatalog zusammenstellt. Wenn man sich dessen bewusst wird, wird man gleichzeitig viel zurückhaltender in dem Unterfangen, anderen Menschen seine persönliche Geboteauswahl überzuhelfen.
Folgende "Thesen" sollen helfen, die Gedanken um die eigene Ethik auf diese andere Ebene zu transferieren und so eine Grundlage für eine fruchtbare Diskussion um die Ethik unter Christen zu schaffen.
- Christlicher Glaube ist mehr als Ethik – Ethik ist nicht einmal der Kern des christlichen Glaubens.
- Seit der Reformation steht für den evangelischen Glauben fest: Ethik hat keine soteriologische Funktion im Glauben. Rettung / Heil ist nicht durch Werke – auch nicht durch ethische Werke – zu verdienen.
- Die historische Forschung hat mittlerweile sämtliche biblische Gebote im Vorfeld ihres Auftauchens in der Bibel schon in der Umwelt nachgewiesen. Es ist kein einziges Gebot bekannt, welches in der Heiligen Schrift neuartig gewesen wäre. Das bedeutet: Weder Gott (im alten Bund) noch Jesus (im neuen Bund) hat der Ethik der jeweiligen Zeit inhaltlich neuartige Forderungen hinzugefügt. Vielmehr wurde in beiden Fällen jeweils etablierte und angesehene Sittlichkeit in den Glauben integriert. Als Beispiele seien hier die Feindesliebe und das Ertragen von Leid genannt, die bereits mehrere Jahrhunderte v.Chr. u.a. in einer atheistischen, pessimistischen Religion Asiens (Buddhismus) bekannt waren:
„'Er hat gekränkt mich und bekriegt, er hat beraubt mich und besiegt', Wer solcherlei Gedanken hegt, in dem die Feindschaft sich nie legt. 'Er hat gekränkt mich und bekriegt, er hat beraubt mich und besiegt', Wer solches Denken von sich weist, in dem erlischt des Hasses Geist. Denn niemals hört im Weltenlauf die Feindschaft je durch Feindschaft auf. Durch Liebe nur erlischt der Haß, ein ewiges Gesetz ist das.“
(Übersetzung nach Glasenapp, Helmuth: Pfad zur Erleuchtung. Buddhistische Grundtexte, Köln 1956.)
„Auch wenn Räuber und Mörder einem mit der Säge Glied für Glied abschnitten, wer darüber zornig würde, der handelte nicht nach meiner Lehre. Denn auch in einem solchen Fall sollt ihr euch üben: 'Nicht soll unser Denken sich verändern, nicht wollen wir böses Wort von uns geben, sondern gütig und mitleidig bleiben, voll freundlicher Gesinnung und ohne Haß.'“
(Majjhima-Nikaya, zitiert nach Glasenapp, 95.) - Zur Vorstellung einer „biblischen“ Ethik: Es steht außer Frage, dass die Bibel Grundlage und Korrektur von allem sein muss, was mit unserem Glauben zusammenhängt.
- Es ist jedoch fraglich, in welcher Art die Bibel diese Funktion erfüllt. Vor dem Hintergrund biblischer Aussagen lässt die Bibel NICHT zu, dass man sie im Stil eines Gesetzeslehrers verwendet, um biblische Gebote zeitlos wörtlich umzusetzen oder durch Analogiebildung aufgrund des biblischen Gebotsbestandes zu einer gottgefälligen Ethik kommt.
- Begründung: Die Bibel enthält selbst verschiedene – sowohl von ihrem Umfang als auch von ihrem Inhalt her unterschiedliche – Ethik-Kataloge: Von Jesu Aussage (Mt 5,18f Denn wahrlich, ich sage euch: Bis der Himmel und die Erde vergehen, soll auch nicht ein Jota oder ein Strichlein von dem Gesetz vergehen, bis alles geschehen ist.Wer nun eins dieser geringsten Gebote auflöst und so die Menschen lehrt, wird der Geringste heißen im Reich der Himmel; wer sie aber tut und lehrt, dieser wird groß heißen im Reich der Himmel.) über Lukas' Version des Apostelkonzils (Apg15,28 Denn es hat dem Heiligen Geist und uns gut geschienen, keine größere Last auf euch zu legen als diese notwendigen Stücke: 29 euch zu enthalten von Götzenopfern und von Blut und von Ersticktem und von Unzucht. Wenn ihr euch davor bewahrt, so werdet ihr wohl tun. Lebt wohl!“ - wohlgemerkt: die EINZIGEN Auflagen für heidenchristliche Gemeinden!) bis hin zu Paulus' Version des Apostelkonzils (Gal 2,6 Von denen aber, die in Ansehen standen - was immer sie auch waren, das macht keinen Unterschied für mich, Gott sieht keines Menschen Person an -, die Angesehenen haben mir nämlich nichts zusätzlich auferlegt,...) oder dem berühmten: paulinischen „Alles ist erlaubt“ (1Kor 6,12 Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles ist nützlich. - s.a. 1Kor10,23), das nur noch die Frage der Nützlichkeit zum Maßstab der Ethik erklärt.
- Die Bibel enthält ethische Maßstäbe, die sie selbst an anderer Stelle für ungültig erklärt. Neben dem impliziten Beweis durch die verschiedenen Ethik- Kataloge sei hier nur auf Jesu Aussage hingewiesen, dass der Mensch NICHT, wie durch das mosaische Gesetz behauptet, durch den Genuss von Speise etc. unrein werde (Mk7,15-16 Da ist nichts, was von außerhalb des Menschen in ihn hineingeht, das ihn verunreinigen kann, sondern was aus dem Menschen herausgeht, das ist es, was den Menschen verunreinigt.). Als Begründung dafür führt er NICHT an, dass sich dies durch seinen Sühnetod ändern werde, sondern dass es noch nie so war, weil Essen durch den Verdauungstrakt geht und nicht durchs Herz. Um es noch ein wenig schwieriger zu machen, haben wir sogar die Aussage Gottes, dass auch er Gebote gegeben hat, „die nicht gut waren“ (Hes20,25 Und auch ich gab ihnen Ordnungen, die nicht gut waren, und Rechtsbestimmungen, durch die sie nicht leben konnten.).
- Biblische ethische Maßstäbe ändern sich mit der Zeit. Abgesehen von der Tatsache, dass ethische Maßstäbe der jeweiligen Zeit und Umwelt übernommen wurden (siehe oben), mag hier als Beispiel die biblische Sexualethik dienen: Während zu Jesu Zeiten die Einehe „in“ war, sah diese Sicht zur Zeit Davids und der Urväter Israels offensichtlich anders aus. David, ein Freund Gottes, ein Mann nach dem Herzen Gottes, hatte mehrere hundert Frauen – ein Umstand der durch Gott niemals auch nur ansatzweise kritisiert wurde. Wie ist das möglich, wenn eine konkrete übergeschichtliche Form der Sexualethik und Ehe tatsächlich für Gott solch ein wichtiges Thema sein sollten? Aber es kommt noch schlimmer: Gott selbst wirkte aktiv an Polygamie mit, wenn er sagt: 1Sam12,8 „und ich habe dir das Haus deines Herrn gegeben und die Frauen deines Herrn in deinen Schoß und habe dir das Haus Israel und Juda gegeben. Und wenn es zu wenig war, so hätte ich dir noch dies und das hinzugefügt.“. GOTT hat David DIE FRAUEN seines Herrn in seinen Schoß gegeben und hätte ihm, wenn er es gewollt hätte, sogar noch mehr gegeben. Entweder bedeutet dies, das Gott aktiv und willentlich an Sünde mitgewirkt hat, oder aber Sexualität oder eine bestimmte Form der Ehe ist kein solch wichtiges oder festgelegtes Gebiet, dass sich diesbezügliche ethische Normen nicht mit der Zeit und den Gepflogenheiten der Gesellschaft ändern könnten. Dazu lohnt sicher auch ein Blick auf die sogenannte Levirats- oder Schwagerehe, die im Gesetz als von Gott geboten dargestellt und auch von Jesus nicht in Frage gestellt wird – und die dem Erhalt von Besitz Vorrang gegenüber der Einehe oder dem Sex gibt.
- Es gibt keine himmlische menschlich-ethische Ordnung, keine himmlischen, für den Menschen uneinsehbaren Gebote zwischenmenschlichen Verhaltens, die hier einfach umgesetzt werden müssten - egal ob man sie versteht oder nicht. Dies wird neben der offensichtlichen Tatsache, dass die Ethik für den Menschen da ist und nicht der Mensch für die Ethik, unter anderem aus den neutestamentlichen Zusammenfassungen des Willens Gottes für menschliches Zusammenleben deutlich: Mt7,12 Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Denn darin besteht das Gesetz und die Propheten. (Jesus), Mt22,37 Er aber sprach zu ihm: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand." 38 Dies ist das größte und erste Gebot. 39 Das zweite aber ist ihm gleich: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." 40 An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten. (Jesus) oder einfach nur: Röm 13,9 Denn das: "Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren", und wenn es ein anderes Gebot gibt, ist in diesem Wort zusammengefasst: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." (Paulus). Diese Zusammenfassungen bedeuten einerseits, dass JEDES Gebot, wenn es dem Willen Gottes entsprechen soll, daraufhin durchsichtig zu machen ist, ob und warum es Ausdruck der Liebe ist, und auch NUR auf diese Weise zu begründen ist. Dies bedeutet auch, dass sowohl Jesus als auch Paulus ihren Hörern/Lesern zutrauten, diesen Begründungszusammenhang herzustellen.
- Denkanstoß zu dem häufigen Argument: „Man muss sich einfach daran halten, was in der Bibel steht“: Abgesehen von den oben beschriebenen Ethik-Katalogen unterschiedlichen Umfangs, die sich zum Teil gegenseitig aufheben, sei jemandem der dies behauptet, gesagt, dass dazu dann ohne Unterschied alles gehört, was biblisch gefordert ist. Es kann nicht angehen, sich nach eigenen Vorstellungen eine Lieblingssammlung biblischer Gebote zusammenzustellen, die dann jeweils mit dem Hinweis „Es steht doch in der Bibel“ durchgesetzt wird. Wenn so argumentiert wird, muss ALLES umgesetzt werden, was die Bibel fordert. Dazu gehört dann nach Jesu Aussage aus Mt5,18f auch JEDES einzelne Gebot des alten Testaments zu halten (wie z.B.: keine Kleidung aus zweierlei Stoff tragen (3Mo19,19), Zwangsehe nach Vergewaltigung (5Mo22,28f), violett/purpurne Kordeln an die Kleidung nähen (4Mo15,38)) aber auch neutestamentliche Gebote wie das Schweigegebot für Frauen in der Gemeinde (1Kor14,33f) oder das Essen nur von koscherem Fleisch (Apg15,29). Auch die Beschränkung darauf, sich nur an das zu halten, was Jesus gesagt hat, ist nicht tragfähig: Erstens gibt es keine biblische Legitimation zur dieser Vorgehensweise und zweitens hat Jesus nach Mt5,18f ja gerade die Aussage getätigt, dass sich an jedes noch so kleine alttestamentliche Gebot zu halten wäre.
Schlussfolgerungen:
Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass...
a) KEINE einzige ethische Forderung allein damit begründbar ist, dass sie in der Bibel stehe oder von Jesus ausgesprochen wurde.
b) JEDE ethische Forderung daraufhin zu prüfen ist, ob und inwiefern sie Ausdruck der Liebe – und damit Gottes Wille – ist. Um zu erkennen, welches Verhalten beim gegenwärtigen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung der zwischenmenschlichen Liebe dient, muss diese Prüfung aktuelle Erkenntnisse der verschiedensten Wissenschaften berücksichtigen (z.B. Psychologie, Soziologie...) um einem fortschreitend besseren Verständnis davon, was dem Menschen dienlich und was ihm schädlich ist, gerecht werden zu können.
Text von: Marco Neumann