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vom 10.08.2017 - Autor: John Pavlovitz - übersetzt von Marco Neumann

Jeden Tag lande ich unweigerlich in einer Form derselben Unterhaltung.

Ich gerate mit einem eher konservativen Christen aneinander, der ein Problem mit meiner Haltung zur Bibel oder zur Sexualität oder zur Sünde oder zur Erlösung oder zur Politik hat, und wenn sie erst merken, dass ich bezüglich meiner Haltung weder in Verlegenheit zu bringen noch einfach vom Gegenteil überzeugt werden kann – offerieren sie mir stets die gleiche Lösung für das von ihnen diagnostizierte „Problem“ mit meiner progressiven Theologie:

„Du solltest versuchen die Bibel zu lesen und Gott bitten, Dir die Wahrheit zu zeigen.“ - als wenn ich dergleichen niemals in Erwägung gezogen hätte.

Manchmal werden diese Worte als unabsichtliche Beleidigung ausgesprochen, manchmal als verurteilende Schelte und manchmal auch als kaum verhüllter Mittelfinger. Aber so oder so beinhaltet dieser Vorschlag immer eine gewisse Arroganz, denn wenn ich nicht zu denselben Schlussfolgerungen gelange wie sie, muss ich wohl die Arbeit nicht richtig gemacht haben. Dann muss ich offenbar gegen Gott rebellieren und mein Verständnis muss wohl in Dunkelheit gehüllt sein; umwölkt vom Teufel – oder vielleicht von Rob Bell.


„Du solltest versuchen die Bibel zu lesen und Gott bitten, Dir die Wahrheit zu zeigen.“ - als wenn ich dergleichen niemals in Erwägung gezogen hätte.


Meine Antwort ist stets dieselbe: „Die Bibel lesen und darüber beten ist exakt die Art wie ich progressiv wurde.“

Länger als 40 Jahre Christ und während zweier Dekaden als Pastor einer Gemeinde habe ich mit der Bibel gelebt:

Ich habe sie gelesen um inspiriert und informiert zu werden.

Ich habe sie studiert – in Seminaren, Kleingruppen und allein.

Ich habe hunderte Bibelstudien gemacht und monatelang an Predigten gesessen.

Ich habe sie gelehrt und gepredigt und über sie nachgedacht Stunden über Stunden über Stunden.

Ich habe mit ihr in der Stille gesessen und über den Worten gebetet und dabei aufmerksam auf die Stimme Gottes gehört.

Und all das zusammen hat die Glaubensperspektive gebildet, die ich heute habe. Das war mein langer, zielgerichteter Weg in das progressive Christentum.

Je tiefer ich in den Schriften grub und darüber nachdachte, was ich gelernt hatte, umso mehr fühlte ich, wie sich mein Verständnis veränderte. Stück für Stück durch diesen fortgesetzten Prozess des Studiums und des Gebets und des Lebens merkte ich, dass ich Dinge nicht mehr glauben konnte, die ich früher geglaubt habe. Alte Sicherheiten wurden instabil und neue Dinge wurden meine Grundlage. Über die Zeit begann ich die Bibel stückweise jedoch immer sicherer anders zu sehen, und das führte mich zu diesem Ort und zu den Überzeugungen, die ich nun habe.

Die Bibel ist für mich nicht länger irgendeine perfekte, ledergebundene Niederschrift, von Gott diktiert und in die Köpfe von ein paar Männern heruntergeladen oder vom Himmel gefallen, sondern sie wurde für mich zu einer umfangreichen Bibliothek – von fehlerhaften und unperfekten menschlichen Wesen an einem bestimmten Ort und zu einer ganz bestimmten Zeit in der Menschheitsgeschichte geschrieben, die ihre Erlebnisse mit Gott aufschrieben – so gut wie sie sie verstanden.


Das ist der Pfad aller Menschen des Glaubens, wenn sie ehrlich sind – egal wie konservativ oder progressiv ihre Theologie ist.


In dieser Bibliothek konnte ich Weisheit und Bedeutung finden, und durch diese Worte konnte ich Gott suchen und die Menschheit verstehen und eine funktionierende Religion anfertigen, um darin zu leben. Aber ich konnte auch andere wichtige Dinge in diese Reise einbringen: Dinge wie Wissenschaft und Geschichte, Dinge wie Natur, Gemeinschaft und andere Glaubenstraditionen – und ja: meine persönliche Erfahrung als lebendes und nicht-wiederholbares menschliches Wesen.

Das ist der Pfad aller Menschen des Glaubens, wenn sie ehrlich sind – egal wie konservativ oder progressiv ihre Theologie ist. Und genau das ist der Punkt.

Keiner von uns hat die Wahrheit gepachtet und wir alle bringen dieselbe Sache in unsere Studien und Gebete und unsere Religion ein: uns selbst. Wir bringen die Gesamtsumme der Familien in denen wir gelebt haben ein ebenso wie den Ort, an dem wir geboren wurden und die Glaubenstradition, in der wir erzogen wurden. Wir tragen die Lehrer und Pastoren und Autoren, die uns inspiriert haben in uns, die Erfahrungen, die wir gemacht haben und sogar unsere unterschiedlichen Persönlichkeiten. Mit anderen Worten: Wir alle finden unseren Weg – auf dem Weg finden wir unseren Weg.

Wenn andere Christen jemanden instruieren, er solle „die Bibel lesen“ oder „damit ins Gebet gehen“ oder „Gott bitten, ihm die Wahrheit zu zeigen“, meinen sie üblicherweise: „Mach all das bis Du es richtig verstanden hast – bis Du mit mir übereinstimmst“. Sie gehen davon aus, dass ihre Version des Studiums und des Nachdenkens fundierter sind als die von anderen.

Und genau hier liegt die Schönheit der progressiven Christenheit: Sie besteht nicht darauf, dass andere mit ihr übereinstimmen, sie beansprucht keine Überlegenheit und sie beißt sich nicht an ihren Schlussfolgerungen fest. Was nicht bedeutet, dass sie zu ihrem momentanen Stand auf impulsive, bequeme oder ignorante Weise gekommen ist. Genau das Gegenteil. Ich habe tausende Christen getroffen, die liberalere Positionen gegenüber allen möglichen Themen vertreten, die nicht so angefangen haben. Sie kamen zu ihren Positionen nach Jahren oder sogar Jahrzehnten sorgfältiger, gebetsintensiver und treuer Untersuchung. Sie sind genauso intelligent, engagiert und ernsthaft suchend wie ihre mehr orthodoxen Brüder.


Und genau hier liegt die Schönheit progressiver Christenheit: Sie besteht nicht darauf, dass andere mit ihr übereinstimmen, sie beansprucht keine Überlegenheit und sie beißt sich nicht an ihren Schlussfolgerungen fest.


Und das ist vielleicht die größte Herausforderung für konservative Christen und es ist passenderweise dieselbe Herausforderung, denen die Pharisäer in dem Evangelium begegneten: Zu glauben, dass andere wirkliche, echte und wunderschöne Erlebnisse mit Gott haben, die nicht mit ihren eigenen übereinstimmen. Menschen können die Bibel lesen und beten und alles was sie tun ernsthaft und liebevoll tun – und am Ende unterschiedlich glauben.

Lieber Christ, wenn Du Dich also das nächste Mal versucht fühlst, jemandem der nicht Deine religiösen Überzeugungen oder Deine Theologie teilt, leichtfertig zu erzählen, sie solle „versuchen die Bibel zu lesen und zu Gott kommen“ - dann wäre es vielleicht hilfreich, wenn Du ein wenig Demut bezüglich Deiner eigenen Ansichten suchst und ein wenig Respekt vor denen anderer. Und vielleicht kannst Du in Erwägung ziehen, dass es gerade ihr Bibellesen und ihr Gebet waren, die sie zu diesen Glaubensansichten geführt haben.

Vielleicht haben sie studiert und gebetet und zugehört.

Vielleicht hat Gott ihnen ja Wahrheit enthüllt.

Und vielleicht braucht Gott Dein Einverständnis nicht, um das zu tun.

Originaler Artikel von John Pavlovitz

aus dem Englischen übersetzt von Marco Neumann

Artikel im Original lesen

 



Über John Pavlovitz


John Pavlovitz ist seit über 20 Jahren im Dienst - sowohl online wie auch in der "North Raleigh Community Church". Er liebt es Lieder zu schreiben, Sport zu treiben, zu kochen, zu wandern und sich geistliche Nahrung zu beschaffen. Du kannst ihn auf FacebookTwitter oder seiner Homepage besuchen oder auch sein neues Buch "A bigger Table" bestellen!

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